Die Sieglseen
Tauchen in einer Märchenwelt
Mitten in den Allgäuer Alpen, in einem verträumten, einsamen Tal, weit, weit hinten, umringt von hohen Tannen, liegt versteckt ein türkisblaues Juwel. Neoprenzwerge, die dort tauchen gehen wollen, müssen lange warten und es sich verdienen.
Geologie
Die Doline, aus der die beiden Siegelseen entstanden sind, befindet sich im Schwarzwassertal, einem Seitental des Lechtals im Tirol. Das Wasser einer unterirdischen Quelle wusch über Jahrtausende eine Höhle im Kalkgestein aus, bis vor etwa 500 Jahren die Decke einstürzte. Der so entstandene Trichter füllte sich mit Wasser. Schleimalgen überwucherten im Laufe der Zeit den Boden und die versunkenen Bäume. Eine zauberhafte Unterwasserwelt wurde so erschaffen. Einige Fische haben die Seen besiedelt. Entweder sind sie den Bachlauf herauf geschwommen oder wurden als Laich im Gefieder von Vögeln eingeschleppt.
Der grosse Sieglsee ist fast kreisrund, misst etwa 100 Meter im Durchmesser und ist rund 25 Meter tief. Der kleine Sieglsee misst etwa 30 Meter im Durchmesser und ist rund 8 Meter tief. Ein kurzes Bächlein verbindet die beiden durch eine Landbrücke getrennten Seen. Der Ausfluss befindet sich beim kleinen Sieglsee, fliesst in den Schwarzwasserbach, dann in den Lech und schliesslich in die Donau. In der Regel ist die Sicht im grossen Sieglsee schlechter, was vermutlich an der steilen Geröllhalde am Ostufer liegt. Bei Regen werden hier sicher Schwebstoffe eingeschwemmt.
Naturschutz
Die Sieglseen und das ganze Gebiet rundherum stehen unter Naturschutz. Die Zufahrt ist nur für ein Auto des Allgäuer Taucherhofs in Aitrang gestattet. Eine Taucherlaubnis gibt es nur dreimal im Jahr für maximal acht Taucher gleichzeitig. Jeder muss mindestens 100 Tauchgänge vorzeigen können.
Holperige Fahrt
Die Anreise ist ein Abenteuer für sich. Dicht aneinandergedrängt schlängeln wir uns im Kleinbus über schmale, steinige Forstwege steil bergauf. Die holperige Fahrt durch die atemberaubende wilde Landschaft des Schwarzwassertals in den Allgäuer Alpen dauert etwa 45 Minuten. Mal wird der Weg links, mal rechts von einem steilen Abhang gesäumt. Hinter jeder Spitzkehre erwarten wir auf die landestypischen Wildtiere «Ahirsch», «Noahirsch» und «Kruzifixnoahirsch» zu stossen. Doch sind sie heuer sehr scheu und bestimmt vom gelegentlichen lauten «Klonk» eines Steines gegen den Unterboden des Fahrzeuges verjagt worden. Ein Blick zurück: Jepp, der Anhänger mit dem ganzen Tauchgerödel ist noch nicht alleine den Berg hinuntergerollt.
Es kann nicht mehr weit sein. Doch jetzt drehen die Vorderräder durch. Zu steil für den Schotterweg. Oder haben wir zuviel gefrühstückt? Also aussteigen und schieben. Was, wenn wir hier eine Autopanne haben? Das Smartphone meint: Kein Empfang. Hilfe, ein echtes Erste-Welt-Luxusproblem! Vor meinem geistigen Auge laufen im Schnellvorlauf sämtliche Episoden mit Bear Grylls auf einmal ab. Zum Glück hat jeder ein Tauchmesser dabei.
Auf einer ebenen Lichtung machen wir halt. «Da nauf!», zeigt unser Guide. Ein schmaler Trampelpfad führt eine Böschung empor und gibt nach fünf Minuten den Blick auf die gut versteckten Sieglseen frei. In strahlendem Türkis liegen sie verträumt unter dem tiefblauen Himmel. Kein Lüftchen regt sich. Es sieht aus wie auf einer Postkarte. Doch die hungrigen Bremsen und der Gedanke, dass alles Tauchgerödel den steilen Dolinentrichter hinunter und wieder heraufgeschleppt werden muss, holen einen wieder in die Realität zurück. Sherpas leben leider im Himalaya, nicht im Tirol. Ha, zum Glück hab ich den Nassanzug dabei und muss nicht so viel schleppen!
Tauchen
Mehrere Verschnaufpausen später (sind wir wirklich nur auf 1200 Meter über Meer?) steigen wir mit den Flossen in der Hand auf Zehenspitzen ins Wasser, bedacht darauf, möglichst wenig Algen und Sediment aufzuwirbeln. Alles zieht sich zusammen, als eiskaltes Wasser in den Anzug dringt. Ein Blick auf den Tauchcomputer entlarvt die verschmitzte Notlüge des Guides: Von angesagten 16 °C sind nur noch 6 °C übrig! «Sonst wärt ihr nia nai ganga», lacht dieser, als wir ihn anschauen. Gibts eigentlich Tiroler Eisbären? Egal. Ich wünsch mir sehnlichst den Trocki herbei und tauche ab.
Der Anblick der mystischen Unterwasserwelt lässt die arktischen Temperaturen schnell vergessen. Ich stelle mir vor, durch die flüssige Atmosphäre eines fernen Planeten zu schweben. Da und dort versteckt sich kein Alien, aber ein scheuer Bachsaibling im Geäst versunkener Bäume. Zuckerwatte gleich haben gelblich-weisse Schleimalgen alles dick überwuchert. Millionen eingeschlossener Gasblasen lassen sie teils in langen Fäden vom Grund und von Ästen versunkener Bäume nach oben wachsen. Bei der leisesten Berührung lösen sie sich vom Untergrund und schweben im Wasser. Luftblasen vom Ausatmen reichen bereits. Ja nichts berühren und kaum bewegen. Tarieren, rückwärts schwimmen und Helikopter-Turn will gelernt sein. An einigen Stellen im grossen Sieglsee erkennt man, wie durch Öffnungen am Grund Wasser hervorquillt.
Der kleine Sieglsee ist in 15 Minuten zweimal umrundet, der grosse in 25 Minuten einmal. Das ist auch so in etwa die Zeit, nach der man sich im Nassanzug im eiskalten Wasser sehnlichst wieder an die warme Sonne wünscht.
Schlusswort
Ein so strenges Tauchkontingent für die Sieglseen ist auch richtig so. Massentauchtourismus würde hier nur eine Wüste hinterlassen. Bei den niedrigen Temperaturen dauert es Jahre, bis abgerissene Algen wieder nachgewachsen sind. Für Tauchanfänger gibt es genügend weniger heikle, aber nicht minder schöne Seen im Tirol und im Allgäu.